Kapitel 7 | Maria Magdalena und Paule fahren nach Chile und haben das zweite Malheur

Der Nachtzug sollte Maria Magdalena und Paule von Vilshofen nach Frankfurt bringen. Die Schlafwagen waren ausgebucht, die Waggons ruckelten unrhythmisch; es gab keinen Platz, der zum Sitzen einlud. Sie gingen bis zum Ende des Zugs. Überall begegneten ihnen abweisende mürrische Fratzen … fahle Häute, aus denen abgestandene Luft entwich … Spülwasseraugen, in denen klebrige Reste eines unerfüllten Lebens sich auflösten. Sie verabscheuten diese Totgeburten und fühlten
sich schuldig. Sie fanden keinen Platz, der Geborgenheit versprach. Als Paule die Tür zum letzten Waggon öffnete, standen sie im Post-
abteil.

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Die Tür war wohl durch einen Zufall nicht verschlossen worden. Hier lagen die Postsäcke nach Frankfurt, Düsseldorf und Essen, nach
Hamburg und Bremen. Sie lagen auf dem Boden und in den Regalen.
Maria Magdalena blickte zu Paule. Sie liebte ihn. »Hier ist es gemütlich!«, sagte sie. Paule umarmte Maria Magdalena. »Hier bleiben wir!«, sagte er.
Gemeinsam sanken sie auf die Post nach Bremen, denn die Post nach Bremen war mit wattierten Briefumschlägen gefüllt, zumindest gab es keine Päckchen mit scharfen Kanten, die durch die Jutesäcke drückten. Sie nahmen sich noch fest vor, in Zukunft Briefe nur noch in wattierten
Umschlägen zu verschicken, wie es die Postabsender nach Bremen taten. Sie umarmten sich, sie drückten sich aneinander. Sie küssten sich innig; Paule fing an zu brummeln, wie er es immer tat, wenn sie sich innig küssten. Maria Magdalena stimmte mit ein. Die Postsäcke nach Bremen gingen in die Breite, da wurde manch wattierter Liebesbrief beschwert.
Wie aus weiter Ferne vernahmen sie den heiseren Warnton einer Lokomotive. Dann wurden sie von Bremen nach Essen geschleudert. Hier hatten die Absender steifen Karton verwendet. Wahrscheinlich bestand der Inhalt aus beigelegter Rechnung. Maria Magdalena sagte noch: »So heftig musst du nicht reagieren, Paule!«
Dann gab es einen Schlag, und der Waggon türmte sich senkrecht auf und schmiss die Post von Bremen nach Düsseldorf und Maria
Magdalena und Paule von Essen wieder nach Bremen zurück – was sie mit Dank erfüllte. Der Lederbeutel mit dem Stundenglas und der Asche von Onkel Herbert kullerte an das Ende des Postwaggons, dann senkte sich der Waggon langsam in die Horizontale. Sie hörten das
laute, metallene Krachen, als die Eisenräder wieder die Schienen berührten, und rollten ohne Eile in die Nacht Richtung Frankfurt. Hinter sich ließen sie ein Knäuel von ineinander verkeilten Waggons, schreiende Menschen und einen Güterzug mit Kartoffeln, die zum Waschen nach Italien unterwegs waren, um so an Fördermittel der EU heranzukommen. Der Güterzug hätte auf diesem Gleis zu dieser Zeit nicht fahren dürfen; der Lokführer hatte das Haltesignal jedoch
übersehen.
Maria Magdalena schnappte sich die Asche von Onkel Herbert und versprach der fein gesiebten Substanz ein baldiges Verstreuen
auf einem Misthaufen, wenn Herbert es noch einmal wagen sollte,
in ihr Liebesleben einzugreifen.